Bundesverfassungsgericht: Vorzeitiger Corona-Impfanspruch für Krebspatienten abgelehnt
Nach der Neufassung der Corona-Impfverordnung vom 9. Februar 2021 mehren sich gerichtliche Entscheidungen, wonach Eilanträge schwerstkranker Patienten auf unverzügliche Impfung gegen das Coronavirus erfolglos sind.
Aktuelle Gerichtsentscheidungen
Die meisten der betroffenen Schwerkranken gehören nach der Neufassung der Corona-Impfverordnung mittlerweile nicht mehr der Impfkategorie 3 an („hohe Priorität“), sondern wurden in die Impfkategorie 2 hochgruppiert („erhöhte Priorität“). Die Gerichte argumentieren nun, dass schwere Vorerkrankungen durch diese Höhergruppierung hinreichend berücksichtigt würden. Eine weitere Höherstufung in die Impfkategorie 1 („höchste Priorität“) sei daher nicht mehr möglich. Insbesondere Krebspatienten seien auch kein „atypischer Einzelfall“. Trotz der zum Teil erheblichen Gesundheitsgefahren hätten sie keinen Anspruch auf Höherstufung in die Impfkategorie 1.
Übersicht über Entscheidungen zum vorzeitigen Impfanspruch (chronologisch nach Bundesland):
Bundesland | Gericht | Patient/in | Entscheidung | Datum | Aktenzeichen |
Baden Württemberg | VG Stuttgart | 1 Patient mit Atemnot, 1 Patient mit Krebserkrankung in Remission sowie kürzlich erlittenem Herzinfarkt, 1 Patient mit Querschnittslähmung vom Hals abwärts bei Schwächung des Immunsystems
Alter: 39, 60 und 79 Jahre |
kein vorgezogener Impfanspruch | Januar/Februar 2021 | 16 K 193/21, 16 K 511/21, 16 K 581/21 |
Bayern | BayVGH | Krebspatient mit bevorstehender Chemotherapie
Alter: 78 Jahre |
kein vorgezogener Impfanspruch | 10.02.2021 | 20 CE 21.321 |
Berlin | VG Berlin | 2 Krebspatienten | kein vorgezogener Impfanspruch | 29.01.2021 | 14 L 13/21, 14 L 33/21 |
Hamburg | VG Hamburg
(noch zur alten Corona-Impfverordnung!) |
Krebspatientin mit bevorstehender OP und Chemotherapie
Alter: 60-70 Jahre |
keine Entscheidung, Verfahren erledigt; Behörde zieht Impfung von sich aus vor | / | unbekannt |
Hamburg | VG Hamburg | Patientin mit diversen Grunderkrankungen
Alter: 74 Jahre |
kein vorgezogener Impfanspruch | 02.03.2021 | 5 E 617/21 |
Hessen | VG Frankfurt | Patient mit Querschnittslähmung (100% Schwerbehinderung, Pflegegrad 5) | Impfanspruch bejaht | 29.01.2021 | 5 L 182/21.F, 5 L 179/21.F |
Niedersachsen | VG Osnabrück | 1 schwerbehinderter Krebspatient mit unmittelbar bevorstehender OP, 1 Krebspatientin mit unmittelbar bevorstehender Chemotherapie
Alter: 70 und 74 Jahre |
kein vorgezogener Impfanspruch | 04./05.03.2021 | 3 B 4/21, 3 B 6/21 |
Niedersachsen | LSG Niedersachsen-Bremen | Patient mit chronischer Herzinsuffizienz
Alter: 73 Jahre |
kein vorgezogener Impfanspruch | 02.02.2021 | L 5 SV 1/21 B ER |
Schleswig-Holstein | VG Schleswig | Nierentransplantierter Patient mit zusätzlichen Herzproblemen
Alter: 65 Jahren |
kein vorgezogener Impfanspruch | 17.02.2021 | 1 B 12/21 |
Bundesverfassungsgericht: ablehnend und einsilbig
Mittlerweile hat die Streitfrage auch das Bundesverfassungsgericht erreicht: Ein 78-jähriger Krebspatient mit unmittelbar bevorstehender Chemotherapie hatte zunächst vor den Verwaltungsgerichten auf eine vorzeitige Impfung geklagt. Er verlor diese Verfahren und wandte sich daraufhin an das Bundesverfassungsgericht. Die Verfassungsrichter lehnten den Antrag des Mannes jedoch ebenfalls ab (vgl. Beschl. v. 22.02.2021, Az. 1 BvQ 15/21). In der nur fünf Sätze langen Begründung erklärten sie Folgendes: Der betroffene Patient habe nicht hinreichend dargelegt, dass ihm durch das Abwarten auf die Impfung ein schwerer Nachteil entstehe. Ferner habe er nicht ausreichend vorgetragen, dass ihm eine risikoverringernde Isolation nicht möglich sei. Im Übrigen habe er nur unzureichende Ausführungen zum Infektionsrisiko und zum Ansteckungsrisiko bei einer teilstationären Behandlung gemacht.
Weitere Ausführungen machten die Richter nicht. Insbesondere äußerten sie sich nicht zu der unter Juristen heftig diskutierten Frage, ob das Bundesgesundheitsministerium die Impfreihenfolge überhaupt per Verordnung hätte regeln dürfen. Einige Gerichte halten die Corona-Impfverordnung nämlich bereits für verfassungswidrig und nichtig, da es Sache des parlamentarischen Gesetzgebers gewesen wäre, die Verteilung der Impfstoffe zu regeln.
Hoffnung auf den „Impfturbo“?
Dass sich die Gerichte nach der Neufassung der Corona-Impfverordnung schwerer damit tun würden, vorzeitigen Impfansprüchen stattzugeben, war absehbar. Die Begründung so mancher Entscheidung mutet jedoch sehr pauschal, mitunter sogar lebensfremd an. Auch das Bundesverfassungsgericht hat die Gelegenheit verpasst, sich inhaltlich näher mit den drängenden und schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Fragestellungen dieser Fälle auseinanderzusetzen. Und es hätte mehr Augenmaß beweisen sollen: Denn der Situation eines 78-jährigen, schwerkranken Leukämiepatienten, der laut umfangreichen medizinischen Gutachten „mit höchster Dringlichkeit“ und „umgehend“ gegen Corona zu impfen ist, wird eine lediglich aus fünf Sätzen bestehende Begründung nicht annähernd gerecht.
Übrigens: Richter und Justizbedienstete gehören „nur“ der Impfkategorie 3 an. Ein schwacher Trost für all diejenigen Schwerkranken, die es mittlerweile immerhin in die Impfkategorie 2 „geschafft“ haben. Wenn diese Patienten nicht den belastenden und ungewissen Weg eines Gerichtsverfahrens gehen wollen, bleibt ihnen im Moment nur Folgendes: Abwarten, sich (irgendwie) isolieren und die vage Hoffnung auf den „Impfturbo“.
von Rechtsanwältin Dr. Yvonne Schuld, LL.M.